EIN KOMMENTAR UNSERES AK-KOORDINATORS MANNI ENGELHARDT
Gesetz ist Gesetz, sollte man annehmen dürfen. Aber das sieht in der Praxis oftmals anders aus.
Der § 81 Abs. 1 SGB IX schreibt folgendes für alle Arbeitgeber, nicht nur die des öffentlichen Dienstes vor:
„Die Arbeitgeber sind verpflichtet zu prüfen, ob freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbesondere mit bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden können. Sie nehmen frühzeitig Verbindung mit den Agenturen für Arbeit auf. Die Bundesagentur für Arbeit oder ein von ihr beauftragter Integrationsdienst schlägt den Arbeitgebern geeignete schwerbehinderte Menschen vor. Über die Vermittlungsvorschläge und vorliegenden Bewerbungen von schwerbehinderten Menschen haben die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung und die in § 93 genannten Vertretungen unmittelbar nach Eingang zu unterrichten. Bei Bewerbungen schwerbehinderter Richter und Richterinnen wird der Präsidialrat unterrichtet und gehört, soweit dieser an der Ernennung zu beteiligen ist. Bei der Prüfung nach Satz 1 beteiligen die Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung nach § 95 Abs. 2 und hören die in § 93 genannten Vertretungen an. Erfüllt der Arbeitgeber seine Beschäftigungspflicht nicht und ist die Schwerbehindertenvertretung oder eine in § 93 genannte Vertretung mit der beabsichtigten Entscheidung des Arbeitgebers nicht einverstanden, ist diese unter Darlegung der Gründe mit ihnen zu erörtern. Dabei wird der betroffene schwerbehinderte Mensch angehört. Alle Beteiligten sind vom Arbeitgeber über die getroffene Entscheidung unter Darlegung der Gründe unverzüglich zu unterrichten. Bei Bewerbungen schwerbehinderter Menschen ist die Schwerbehindertenvertretung nicht zu beteiligen, wenn der schwerbehinderte Mensch die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ausdrücklich ablehnt.“
Dieser § 81 Abs. 1 des SGB IX lässt zwar an Deutlichkeit Nichts zu wünschen übrig, wurde am im Falle eines schwerbehinderten Menschen, der einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 hatte, und sich beim öffentlichen Dienst beworben hatte, ignoriert.
Der schwerbehinderte Bewerber hatte einen absolut qualifizierten Ausbildungsgang (kaufmännische Berufsausbildung, Fachholstudium der Betriebswirtschaft und die abgeschlossene Ausbildung zum gehobenen Verwaltungsdienst). Er bewarb sich auf eine ausgeschriebene Kommunal-Planstelle, die wegen einer Mutterschaftsvertretung interimsmäßig zu besetzen war.
Der beklagte Arbeitgeber besetzte die Stelle jedoch mit einem anderen Bewerber ohne vorher die Prüfung nach der Tauglichkeit der Stelle zur Besetzung mit einem schwerbehinderten Menschen geprüft zu haben. Im Übrigen hatte er auch keinen Kontakt zur Agentur für Arbeit aufgenommen! Dies stellt aus meiner Sicht einen eklatanten Verstoß gegen den § 81 Abs. 1 SGB IX dar!
Der für diese Stelle abgewiesene schwerbehinderte Bewerber verlangte daraufhin eine ihm nach § 15 Abs. 2 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) eine Entschädigung, da er wegen seiner Behinderung eine klare Benachteiligung erfahren hatte.
Dies lehnte der Arbeitgeber ab, so dass der Kläger gezwungen war, den Klageweg zu beschreiten.
Wer jetzt aber glaubt, dass Arbeitsrichter in der Lage sein müssten, Gesetze lesen und anwenden zu können, irrt sich im vorliegenden Falle gewaltig.
Sowohl die I. Instanz als auch die II. Instanz (Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 06.09.2010, Az.: 4 Sa 18/10)
Wiesen die Klage ab! Ein Glück, dass der Kläger sich durch diese, mir vollkommen unverständlichen Entscheidungen nicht irritieren lies und das BAG anrief.
Erst das BAG war dann in der Lage, das Gesetz und insbesondere den § 81 Abs. 1 SGB IX richtig zu lesen, und schloss eine Fehlinterpretation, die das Recht auf den Kopf gestellt hätte aus!
Ganz klar stellte der 8. Senat des BAG fest:
Die Prüfpflicht zur Berücksichtigung schwerbehinderter Menschen bei der Besetzung freier Stellen ist für alle Arbeitgeber zwingend! Und dies auch noch unabhängig davon, ob sich ein schwerbehinderter Mensch für eine Stelle beworben hat oder nicht! Bei Verletzung dieser zwingenden Prüfpflicht liegt nach Auffassung des BAG ein Indiz dafür vor, dass der Arbeitgeber wegen Behinderung einen abgelehnten schwerbehinderten Menschen benachteiligt hat. Er hat dann seine Förderpflichten unbeachtet gelassen! Das war im vorliegenden Falle so. Die letztendliche Zurückverweisung an das LAG bezieht sich dann jedoch nicht mehr auf das BAG-Urteil selbst, sondern soll lediglich der Festlegung der Entschädigungssumme in ihrer Höhe dienlich sein!
Diese glasklare und unmissverständliche BAG-Entscheidung war schon längst überfällig; denn es gibt nach meinem Dafürhalten Dunkelziffern bei derartigen Gesetzesverstößen von Arbeitgebern, die meine Vorstellungskraft sehr wahrscheinlich noch übersteigen!
(QUELLE: PRESSEMITTEILUNG DES BAG NR.: 77/2011 VOM 13.10.2011)