„Griechenland (EU und Grexit)“: Ein ausführliches Interview mit Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis!

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

soeben haben wir als Gewerkschafter/Innen-Arbeitskreis (AK) mit der Bitte um Veröffentlichung ein Interview mit Yanis Varoufakis zum Thema „Griechenland“ (http://ak-gewerkschafter.com/category/europa/ und http://ak-gewerkschafter.com/category/finanzkrise/ und http://ak-gewerkschafter.com/ßs=griechenland) erhalten. Dieses Interview mit dem Ex-Finanzminister Varoufakis inkl. seiner Stellungnahme zu einem (langfristigen) Grexit führte vor dem Abschluss der Vereinbarung zwischen der EU und Griechenland Harry Lambert.

http://www.weltatlas.info/_fotos/griechenland/flagge-griechenland-gross.png

http://www.klimaktiv.de/media/images/upload/motifs/Politik/EU.jpg

Wir haben dieses Interview nebst Vorspann in ungekürzter Form zu eurer gefälligen Kenntnisnahme auf unsere Homepage gepostet.

Für den AK Manni Engelhardt –Koordinator-

Interview:

„Wie der linke Ökonom und Mathematiker Varoufakis als griechischer
Finanzminister vor die (Beton-) Wand beschränkter EU-Bürokraten lief: in
den internen Beratungen der Finanzminister sah er bei seinen mühsam
erarbeiteten wirtschaftlichen Argumenten in teilnahmslose Gesichter.

Varoufakis: „Ich hätte auch genauso gut die schwedische Nationalhymne
singen können. Deren permanente Botschaft: vielleicht haben Sie Recht, aber
wir werden Sie dennoch zerquetschen.“

Später in diesem Interview mit ihm die für alle Linken an zukünftigen
EU-Regierungen sehr wichtige Notwendigkeit eines Plan B: der gut und
intensiv vorbereitete Ausstieg aus dem Euro, um der Dauererpressung zu
entrinnen! Dazu hatte er aber von Anfang an nicht das Mandat (weder von der
Regierung noch vom griechischen Volk) und zum Schluss in der Stunde der Not
fehlte dafür die dringend erforderliche (Vorbereitungs-) Zeit.

Analyse http://vineyardsaker.de/category/analyse/ Europa
http://vineyardsaker.de/category/europa/ “Unsere Schlacht, Griechenland
zu retten” – Interview mit Varoufakis
13. Juli 2015
http://vineyardsaker.de/analyse/unsere-schlacht-griechenland-zu-retten-interview-mit-varoufakis/
Dagmar Henn http://vineyardsaker.de/author/dagmar-henn/ 33 Kommentare
http://vineyardsaker.de/analyse/unsere-schlacht-griechenland-zu-retten-interview-mit-varoufakis/#comments
Harry Lambert

*Yanis Varoufakis full transcript: Our battle to save Greece
http://www.newstatesman.com/world-affairs/2015/07/yanis-varoufakis-full-transcript-our-battle-save-greece,
veröffentlicht im New Statesman
http://vineyardsaker.de/analyse/unsere-schlacht-griechenland-zu-retten-interview-mit-varoufakis/www.newstatesman.com*
Dieses Gespräch fand vor der Vereinbarung statt.

*Harry Lambert:* Und, wie fühlen Sie sich?

*Yanis Varoufakis:* Ich fühle mich an der Spitze der Welt – ich muss nicht
mehr nach diesem hektischen Terminkalender leben, der völlig unmenschlich
war, einfach unglaublich. Ich hatte fünf Monate lang zwei Stunden Schlaf
täglich… Ich bin auch erleichtert, dass ich nicht länger diesen
unglaublichen Druck aufrechterhalten muss, um um eine Position zu
verhandeln, die zu verteidigen ich schwierig fände, selbst wenn es mir
gelänge, die andere Seite zum Nachgeben zu zwingen, wenn Sie wissen, was
ich meine.

*HL:* Wie war das? Hat Ihnen irgendein Aspekt davon gefallen?

*YV:* Nun, eine Menge davon. Aber die Insider-Informationen, die man
bekommt… seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt zu bekommen… Wenn die
„Mächte, die sind“ („“powers that be“ ist im Englischen ein feststehender
Begriff, A.d.Ü.) direkt zu einem sprechen, und es ist, wie man es
befürchtet hat – diese Lage war schlimmer, als man sich vorgestellt hat!
Also das war Spaß, einen Sitz in der ersten Reihe haben.

*HL:* Worauf beziehen Sie sich?

*YV:* Das völlig Fehlen diplomatischer Skrupel, auf Seiten der
vermeintlichen Verteidiger der europäischen Demokratie. Das ziemlich klare
Verständnis auf der anderen Seite, dass wir analytisch auf der selben Seite
stehen – natürlich wird das jetzt nie herauskommen. [Und doch] wenn sehr
mächtige Personen einem in die Augen schauen und sagen, „Sie haben Recht
mit dem, was Sie sagen, aber wir werden Euch dennoch zerquetschen.“

*HL:* Sie haben gesagt, die Gläubiger hätten Sie abgelehnt, weil „ich es
versuche und in der Eurogruppe von Wirtschaft rede, was niemand tut.“ Was
passierte, als Sie es taten?

*YV:* Nicht, dass es nicht gut angekommen wäre – es gab schlicht eine
völlige Weigerung, wirtschaftlich zu argumentieren. Völlig … Man bringt ein
Argument vor, an dem man wirklich gearbeitet hat – um sicher zu sein, dass
es logisch schlüssig ist – und dann schaut man in leere Gesichter. Es ist,
als hätte man nichts gesagt. Was man sagt ist unabhängig von dem, was sie
sagen. Man hätte ebenso gut die schwedische Nationalhymne singen können –
das hätte die gleiche Antwort erhalten. Und das ist irritierend, für
jemanden, der an akademische Debatten gewöhnt ist… Die andere Seite
engagiert sich immer. Nun, da gab es gar kein Engagement. Es war noch nicht
einmal Beleidigt sein, es war, als hätte niemand etwas gesagt.

*HL:* Als Sie das erste Mal ankamen, Anfang Februar, kann das noch keine
einheitliche Position gewesen sein?

*YV:* Nun, es gab Leute, die auf einer persönlichen Ebene Sympathien hatten
– also, wissen Sie, hinter verschlossenen Türen, auf einer informellen
Basis, insbesondere vom IWF. [HL: „Von den höchsten Ebenen?“ YV: „Von den
höchsten Ebenen, von den höchsten Ebenen.“] Aber dann, in der Eurogruppe,
ein paar freundliche Worte, und das ist es, zurück hinter die Brüstung der
offiziellen Version.

Aber Schäuble war durchweg stimmig. Seine Sicht war, „Ich diskutiere das
Programm nicht – es wurde von der vorhergehenden Regierung akzeptiert, und
wir können es unmöglich erlauben, dass Wahlen irgendetwas ändern. Denn wir
haben die ganze Zeit Wahlen, es gibt 19 von uns, wenn immer bei einer Wahl
sich etwas ändern würde, dann würden die Verträge zwischen uns nichts
bedeuten.“

Also an diesem Punkt musste ich aufstehen und sagen, „Nun, vielleicht
sollten wir einfach in den Schuldnerländern keine Wahlen mehr abhalten,“
und da gab es keine Antwort. Die einzige Deutung, die ich [ihrer Sicht]
geben kann, ist, „Ja, das wäre eine gute Idee, aber schwierig umzusetzen.
Also entweder Sie unterschreiben auf der gepunkteten Linie, oder Sie sind
raus.“

*HL:* Und Merkel?

*YV:* Sie müssen verstehen, ich hatte nie irgendetwas mit Merkel zu tun,
Finanzminister reden mit Finanzministern, Premierminister reden mit
Kanzlern. Nach meinem Verstehen war sie sehr anders. Sie versuchte, den
Premier [Tsipras] zu besänftigen – sie sagte, „wir finden eine Lösung,
machen Sie sich keine Sorgen, ich werde nicht zulassen, dass etwas
Hässliches passiert, machen Sie nur ihre Hausaufgaben und arbeiten mit den
Institutionen, arbeiten mit der Troika; da kann keine Sackgasse sein.“

Das ist nicht, was ich von meinem Gegenstück gehört habe – sowohl vom
Leiter der Eurogruppe wie von Dr. Schäuble, sie waren sehr deutlich. An
einem Punkt wurde mir einstimmig gesagt: „Das ist ein Pferd, und entweder
Sie steigen jetzt auf, oder es ist tot.“

*HL:* Wann genau war das?

*YV:* Am Anfang, gleich am Anfang. [Die erste Begegnung war Anfang Februar].

*HL:* Warum dann weiter herumtun bis in den Sommer?

*YV:* Nun, man hat keine Alternative. Unsere Regierung wurde mit dem
Mandat, zu verhandeln, gewählt. Also war unser erster Auftrag, Raum und
Zeit zu schaffen, um eine Verhandlung durchzuführen und zu einer anderen
Übereinkunft zu kommen. Das war unser Auftrag – unser Auftrag war, zu
verhandeln, nicht, uns mit unseren Gläubigern zu prügeln…

Die Verhandlungen brauchten ewig, weil die andere Seite sich weigerte, zu
verhandeln. Sie bestanden auf einer „umfassenden Übereinkunft“, was heißt,
sie wollten über Alles reden. Meine Deutung ist, wenn man über Alles reden
will, dann will man über Nichts reden. Aber wir haben mitgespielt.

Und sehen Sie, es gab überhaupt keine Positionen, zu gar nichts, die sie
vorbrachten. Sie würden… Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel. Sie würden sagen,
wir brauchen alle Eure Daten über die Haushaltsentwicklung, die in
Griechenland ist, wir brauchen alle Daten der Unternehmen in Staatsbesitz.
Also verbrachten wir viel Zeit damit, ihnen all diese Daten zu beschaffen,
und Fragebogen zu beantworten, und hatten ungezählte Treffen, um diese
Daten zu beschaffen.

Also das war die erste Phase. Die zweite Phase war, als sie uns fragten,
was wir mit der Mehrwertsteuer tun wollten. Dann würden sie unseren
Vorschlag ablehnen, aber nicht mit einem eigenen Vorschlag kommen. Und
dann, ehe wir eine Chance hatten, mit ihnen bezüglich der Mehrwertsteuer
übereinzukommen, würden sie zu einem anderen Thema weitergehen, wie
Privatisierung. Sie würden fragen, was wir bezüglich Privatisierung
vorhätten, wir bringen etwas vor, sie weisen es zurück. Dann gehen sie
weiter zu einem anderen Thema, wie den Renten, von da zum Markt für
Produkte, von dort zu den Arbeitsverhältnissen, von Arbeitsverhältnissen zu
allerlei anderem Zeug, ja? Also war das wie eine Katze, die ihren eigenen
Schwanz jagt.

Wir fühlten, die Regierung fühlte, dass wir diesen Prozess nicht abbrechen
konnten. Schauen Sie, mein Vorschlag von Anfang an war dieser: Dies ist ein
Land, das auf Grund gelaufen ist, schon vor langer Zeit auf Grund gelaufen…
Sicher müssen wir dieses Land reformieren – darüber waren wir uns einig.
Weil Zeit bedeutend ist, und weil die Zentralbank während der Verhandlungen
Druck auf die Liquidität ausübte [der griechischen Banken], um uns unter
Druck zu setzen, damit wir unterliegen, war mein ständiger Vorschlag an die
Troika sehr einfach: kommen wir über die drei oder vier wichtigen Reformen
überein, über die wir übereinkommen können, wie das Steuersystem, die
Mehrwertsteuer, und die sofort umsetzen. Und Sie nehmen die
Liquiditätsbeschränkungen der EZB zurück. Sie wollen eine umfassende
Übereinkunft – verhandeln wir weiter – und in der Zwischenzeit bringen wir
die Reformen ins Parlament, bei denen wir uns einig sind.

Und sie sagten, „Nein, nein, nein, das muss eine umfassende Überprüfung
sein. Nichts wird umgesetzt, wenn Sie es wagen, irgendwelche Gesetze auf
den Weg zu bringen. Das wird als einseitige Handlung betrachtet werden, die
sich feindselig gegen den Prozess richtet, zu einer Übereinkunft zu
kommen.“ Und dann, einige Monate später, plaudern sie den Medien gegenüber
aus, dass wir das Land nicht reformiert hätten, und dass wir Zeit vergeuden
würden! Und so… [kichert] wurden wir in eine Falle gelockt, auf eine Weise,
auf eine wichtige Weise.

Also zu dem Zeitpunkt, als die Liquidität fast völlig verschwand, und wir
bankrott waren, oder fast bankrott, beim IWF, da brachten sie ihre
Vorschläge ein, die völlig unmöglich waren… absolut nicht gangbar und
giftig. Also sie verzögerten, und dann kamen sie mit einer Art von
Vorschlag, wie man ihn einer anderen Seite präsentiert, wenn man keine
Übereinkunft will.

*HL:* Haben Sie versucht, mit den Regierungen der anderen Schuldnerländer
zusammenzuarbeiten?

Die Antwort ist Nein, und der Grund dafür ist sehr einfach: von Anfang an
machten gerade diese Länder es sehr klar, dass sie die energischsten Feinde
unserer Regierung waren, gleich von Anfang an. Und der Grund dafür war,
dass unser Erfolg ihr schlimmster Alptraum war: hätten wir es geschafft,
für Griechenland einen besseren Deal zu verhandeln, dann hätte das sie
natürlich politisch erledigt, sie müssten ihrem eigenen Volk antworten,
warum sie nicht so verhandelt hätten, wie wir das taten.

*HL:* Und Zusammenarbeit mit Parteien, die sympathisieren, wie Podemos?

*YV:* Nicht wirklich. Ich meine, wir hatten immer eine gute Beziehung zu
ihnen, aber da gab es nichts, was sie tun konnten – ihre Stimme würde nie
in die Eurogruppe durchdringen. Und tatsächlich, je mehr sie zu unseren
Gunsten sagten, was sie taten, desto feindseliger wurde der Finanzminister
ihres Landes uns gegenüber.

*HL:* Und George Osborne? Wie war der Umgang mit ihm?

*YV:* Oh, sehr gut, sehr angenehm, hervorragend. Aber er ist draußen, er
ist kein Teil der Eurogruppe. Ein paar Mal, als ich mit ihm gesprochen
habe, konnte ich merken, dass er sehr viel Mitgefühl hatte. Und wirklich,
wenn man sich den Telegraph ansieht, waren unsere größten Unterstützer die
Tories! Wegen ihres Euroskeptizismus, ah… es ist nicht nur
Euroskeptizismus; es ist eine Burkesche Sicht auf die Souveränität des
Parlaments – in unserem Fall war es sehr klar, dass unser Parlament
schlicht wie Müll behandelt wurde.

*HL:* Was ist das größte Problem mit der Funktionsweise der Eurogruppe?

*YV:* [Um ein Beispiel zu geben…] Es gab einen Augenblick, als der
Präsident der Eurogruppe beschloss, gegen uns vorzugehen und uns
tatsächlich ausschloss, und es bekannt machte, dass Griechenland eigentlich
auf dem Weg aus der Eurozone hinaus war…Es gibt die Sitte, dass
Veröffentlichungen einstimmig sein müssen, und der Präsident kann nicht
einfach ein Treffen der Eurozone einberufen und ein Mitgliedsland
ausschließen. Und er sagte, „Oh, ich bin sicher, dass ich das tun kann.“
Für 5-10 Minuten wurde das Treffen unterbrochen, Angestellte, Funktionäre
redeten miteinander, am Telefon, und irgendwann sprach mich ein Funktionär,
irgendein Rechtsexperte, an, und sagte Folgendes, dass „nun, die Eurogruppe
gibt es juristisch nicht, es gibt keinen Vertrag, der diese Gruppe
einberufen hat.“

Also wir haben eine nicht existierende Gruppe, die die größte Macht hat,
das Leben der Europäer zu bestimmen. Sie ist niemand Rechenschaft schuldig,
da sie juristisch nicht existiert; es werden keine Aufzeichnungen erstellt;
und sie ist vertraulich. Also kein Bürger weiß jemals, was dort drin gesagt
wird… Das sind Entscheidungen über Leben und Tod, und kein Mitglied ist
irgendjemand eine Antwort schuldig.

*HL:* Und diese Gruppe wird von der deutschen Haltung beherrscht?

*YV:* Ja, völlig und absolut. Nicht von Haltungen – vom deutschen
Finanzminister. Es ist alles wie ein gut gestimmtes Orchester, und er ist
der Dirigent. Alles passiert gestimmt. Es gibt Momente, in denen das
Orchester verstimmt ist, aber er holt es zusammen und bringt es zurück auf
Linie.

*HL: *Gibt es keine andere Macht innerhalb der Gruppe, können die Franzosen
dieser Macht etwas entgegensetzen?

*YV:* Nur der französische Finanzminister hat Geräusche gemacht, die sich
von der deutschen Linie unterschieden, und diese Geräusche waren sehr
unauffällig. Man konnte fühlen, dass er sehr vorsichtig mit den Wörtern
jonglierte, um nicht in Opposition gesehen zu werden. Und in der
abschließenden Analyse, wenn Doc Schäuble antwortete und tatsächlich die
offizielle Linie festlegte, dann gab der französische Finanzminister am
Ende immer nach und akzeptierte es.

*HL:* Reden wir über Ihren theoretischen Hintergrund, und Ihren Text über
Marx von 2013, in dem Sie schrieben:
„Ein griechischer oder portugiesischer oder italienischer Ausstieg aus der
Eurozone würde bald zu einer Fragmentierung des europäischen Kapitalismus
führen mit einer in einer starken Rezession steckenden Überflussregion
östlich des Rheins und nördlich der Alpen, während der Rest von Europa sich
im Griff einer unerträglichen Stagflation befände. Wer würde wohl von
dieser Entwicklung profitieren? Eine progressive Linke, die wie ein Phönix
aus der Asche der europäischen öffentlichen Institutionen steigt? Oder die
Nazis der Goldenen Morgenröte, die verschiedenen NeofaschistInnen, die
Xenophoben und die Kleinkriminellen? Ich zweifle keinen Augenblick daran,
welches von den beiden Lagern am meisten vom Zerfall der Eurozone
profitieren würde.“ (Zitat aus der Übersetzung der schweizer WOZ, A.d.Ü.)
….also würde ein Grexit unvermeidlich der Goldenen Morgenröte helfen,
denken Sie das noch immer?

*YV:* Nun, sehen Sie, ich glaube nicht an deterministische Versionen der
Geschichte. Syriza ist jetzt eine sehr dominante Kraft. Wenn es uns
gelingt, aus diesem Durcheinander vereint herauszukommen, und eine Grexit
gut durchzuführen … dann wäre es möglich, eine Alternative zu haben. Aber
ich bin mir nicht sicher, ob wir das handhaben könnten, denn es braucht
eine Menge Fachwissen, um den Zusammenbruch einer Währungsunion zu managen,
und ich bin mir nicht sicher, ob wir das hier in Griechenland ohne Hilfe
von Außen haben.

*HL:* Sie müssen vom ersten Tag an an einen Grexit gedacht haben…

*YV:* Ja, absolut.

*HL:* … wurden Vorbereitungen getroffen?

*YV:* Die Antwort ist Ja und Nein. Wir hatten eine kleine Gruppen, ein
‘Kriegskabinett’, im Ministerium, etwa fünf Leute, die das gemacht haben:
wir haben es theoretisch durchdacht, auf Papier, was alles getan werden
müsste [um sich für einen Grexit oder dessen Fall vorzubereiten]. Aber es
ist eine Sache, das auf der Ebene von 4-5 Leuten zu machen, und eine ganz
andere, das Land darauf vorzubereiten. Um das Land vorzubereiten, müsste es
eine Entscheidung der Führung geben, und diese Entscheidung fiel nie.

*HL:* Und in den letzten Wochen, war da eine Entscheidung, dass Sie
fühlten, in diese Richtung zu neigen [einen Grexit vorzubereiten]?

*YV:* Meine Sicht war, wir sollten sehr vorsichtig sein, ihn nicht zu
aktivieren. Ich wollte nicht, dass das eine selbsterfüllende Prophezeiung
wird. Ich wollte nicht, dass das wie Nietzsches berühmtes Zitat wird,
nachdem, wenn man lange genug in den Abgrund starrt, der Abgrund zurück
starrt. Aber ich glaubte auch, dass in dem Moment, als die Eurogruppe
unsere Banken dicht machte, wir diesen Prozess vorantreiben sollten.

*HL:* Richtig. Also gab es zwei Möglichkeiten, soweit ich sehen kann –
einen unmittelbaren Grexit, oder Schuldscheine drucken und die Kontrolle
über die Bank von Griechenland übernehmen [möglicher-, aber nicht
notwendigerweise einen Grexit vorwegnehmend]?

*YV:* Sicher, sicher. Ich habe nie geglaubt, wir sollten direkt zu einer
neuen Währung übergehen. Meine Sicht war – und das habe ich der Regierung
vorgetragen – dass wir, wenn sie es wagen sollten, unsere Banken zu
schließen, was ich für einen aggressiven Zug unglaublicher Größenordnung
hielt, wir aggressiv antworten sollten, aber ohne den point of no return zu
überschreiten.

Wir sollten unsere eigenen Schuldscheine ausgeben, oder zumindest
verkünden, dass wir unsere eigene auf Euro lautende Liquidität herausgeben
würden; wir sollten die griechischen Papiere von 2012, die die EZB hält,
einem Schuldenschnitt unterwerfen oder zumindest verkünden, dass wir es tun
würden; und wir sollten die Bank von Griechenland unter unsere Kontrolle
bringen. Das war das Triptychon, die drei Dinge, mit denen wir meiner
Meinung nach antworten sollten, wenn die EZB unsere Banken schließt.

… Ich habe das Kabinett gewarnt, dass das passieren wird, einen Monat lang,
um uns in eine demütigende Übereinkunft zu zwingen. Als es geschah – und
viele meiner Kollegen konnten es dann nicht glauben – wurde meine
Empfehlung, „energisch“ zu antworten, sagen wir mal, niedergestimmt.

*HL:* Und wie knapp davor war es , zu passieren?

*YV:* Nun, lassen Sie mich sagen, von sechs Leuten waren wir eine
Minderheit von zwei… Sobald das nicht geschah, bekam ich meine Anweisung,
die Banken in Übereinstimmung mit der EZB und der Bank von Griechenland zu
schließen, wogegen ich war, was ich aber machte, weil ich ein
Mannschaftsspieler bin, ich glaube an kollektive Verantwortung.

Und dann fand das Referendum statt, und das Referendum gab uns einen
faszinierenden Schub, einer, der diese Art energischer Antwort auf die EZB
gerechtfertigt hätte, aber dann entschied die Regierung in eben dieser
Nacht, dass der Wille des Volkes, dieses widerhallende „Nein“ nicht sein
sollte, was diesen energischen Ansatz befeuert.

Statt dessen sollte es zu größeren Konzessionen der anderen Seite führen:
das Treffen des Rats der politischen Führer, in dem unser Premierminister
die Vorgabe akzeptierte, gleich was geschieht, gleich, was die andere Seite
tut, wir werden nie auf eine Art antworten, die sie herausfordert. Und das
bedeutet im Grunde kapitulieren… Man hört auf, zu verhandeln.

*HL:* Also haben Sie nicht mehr viel Hoffnung jetzt, dass dieses Ergebnis
viel besser als das der letzten Woche wird – wenn überhaupt, wird es
schlechter?

*YV:* Wenn überhaupt, wird es schlechter. Ich vertraue darauf und hoffe,
dass unsere Regierung auf einer Restrukturierung der Schulden besteht, aber
ich kann nicht sehen, wie der deutsche Finanzminister dem in dem kommenden
Treffen der Eurogruppe zustimmen wird. Wenn er das täte, wäre das ein
Wunder.

*HL:* Genau – weil, wie Sie erklärt haben, Sie zu diesem Zeitpunkt keinen
Hebel mehr haben?

*YV:* Das denke ich, das denke ich. Außer, er [Schäuble] erhält seinen
Marschbefehl von der Kanzlerin. Das wird man sehen, ob sie eingreift, um
das zu tun.

*HL:* Kommen wir nochmal zurück, könnten Sie vielleicht, in einfachen
Worten für unsere Leser, ihre Kritik an Pikettys „Kapital“ erklären?

*YV:* Nun, ich will erst einmal sagen, das bringt mich sehr in
Verlegenheit, weil Piketty mich und die Regierung sehr unterstützt hat, und
ich war in meiner Rezension seines Buchs so gemein zu ihm! Ich schätze
seine Haltung in den letzten Monaten sehr, und ich werde ihm das sagen,
wenn ich ihn im September treffe.

Aber meine Kritik an seinem Buch steht. Sein Gefühl ist korrekt. Seine
Abscheu vor der Ungleichheit… [nicht hörbar]. Seine Analyse untergräbt
jedoch das Argument, was mich angeht. Denn das neoklassische Modell des
Kapitalismus in seinem Buch lässt sehr wenig Raum für den Fall, den er
vortragen will, außer, indem man auf das Modell einen ganz spezifischen
Satz von Parametern anlegt, der seinen eigenen Fall untergräbt. Mit anderen
Worten, wenn ich ein Gegner seiner These wäre, dass Ungleichheit in den
Kapitalismus eingebaut ist, wäre ich im Stande, seinen Fall auseinander zu
nehmen, indem ich seine Analyse angreife.

*HL:* Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen, weil das nicht der
Schlussstrich sein wird…

*YV:* Ja.

*HL:* .. aber es geht um seine Messung von Reichtum?

*YV:* Ja, er nutzt eine Definition von Kapital, die es unmöglich macht,
Kapital zu verstehen – also ist das ein begrifflicher Widerspruch.

*HL:* Kommen wir zurück zur Krise. Ich verstehe wirklich wenig von Ihrem
Verhältnis zu Tsipras…

*YV:* Ich kenne ihn seit Ende 2010, weil ich damals ein prominenter
Kritiker der Regierung war, obwohl ich ihr einmal nahe gestanden war. Ich
stand der Familie Papandreou nahe – auf gewisse Weise tue ich es noch –
aber ich wurde prominent … damals war es eine wichtige Nachricht, wenn ein
ehemaliger Berater sagte,“Wir tun so, als hätte kein Bankrott
stattgefunden, wir versuchen, ihn mit neuen, unhaltbaren Krediten zu
überdecken“, solche Sachen.

Damals schlug ich einige Wellen, und Tsipras war ein sehr junger Anführer,
der versuchte, zu verstehen, was vorging, worum es bei der Krise ging, und
wie er sich selbst positionieren sollte.

*HL:* Gab es ein erstes Treffen, an das Sie sich erinnern?

*YV:* Oh ja. Es war Ende 2010, wir gingen in eine Cafeteria, zu dritt, und
meine Erinnerung ist, dass er damals nicht genau wusste, was seine Sicht
war, was Drachme oder Euro betrifft, die Ursachen der Krise, und ich hatte
sehr, sagen wir mal, „festgelegte Vorstellungen“, was passierte. Und damit
begann ein Gespräch, dass sich über die Jahre hinzog, und dass .. ich
glaube, ich habe geholfen, seine Sicht darauf, was getan werden muss, zu
formen.

*HL:* Wie fühlt es sich jetzt an, nach viereinhalb Jahren, nicht länger an
seiner Seite zu arbeiten?

*YV:* So fühle ich das nicht, ich fühle uns sehr nahe beieinander. Unsere
Trennung war extrem freundschaftlich. Wir hatten nie ein Problem
miteinander, nie, bis heute nicht. Und ich bin sehr eng mit Euclid
Tsakalotos [dem neuen Finanzminister].

*HL:* Und werden sie mit beiden noch diese Woche reden?

*YV:* Ich habe diese Woche noch nicht mit dem Premier gesprochen, in den
letzten Tagen, aber mit Euclid, ja, und ich betrachte Euclid als jemand
sehr Nahen, wie er auch, und ich beneide ihn überhaupt nicht. [Kichert]

*HL:* Wären Sie schockiert, wenn Tsipras zurückträte?

*YV:* Heutzutage schockiert mich nichts mehr – unsere Eurozone ist ein sehr
feindseliger Ort für anständige Menschen. Es würde mich auch nicht
schockieren, wenn er bleibt und ein sehr schlechtes Abkommen akzeptiert.
Weil ich verstehen kann, dass er eine Verpflichtung den Menschen gegenüber
fühlt, die ihn unterstützen, uns unterstützen, dieses Land nicht zu einem
gescheiterten Staat werden zu lassen.

Aber ich werde meine eigene Sicht nicht verraten, die ich schon 2010
geschärft habe, dass dieses Land aufhören muss, weiterzuschieben und so zu
tun, wir müssen aufhören, neue Kredite aufzunehmen und vorzugeben, dass wir
das Problem gelöst haben, wenn es nicht stimmt; wenn wir unsere Schulden
noch unhaltbarer gemacht haben, unter den Bedingungen weiterer Austerität,
die die Wirtschaft noch weiter schrumpfen lässt; und die Last auf die
Habenichtse abwälzt, eine humanitäre Krise auslöst. Das ist etwas, was ich
nicht akzeptieren werde. Da werde ich nicht mitmachen.

*HL:* Eine letzte Frage – werden Sie irgendjemand verbunden bleiben, mit
dem Sie verhandelt haben?

*YV:* Hm, ich weiß nicht. Ich werde jetzt keine Namen nennen, um ihre
Karrieren nicht zu zerstören! [Lacht]“

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