Kollege Detlef Hertz zum Thema: „Die historische Lüge der DDR-Pleite!“

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der Kollege Detlef Hertz (http://ak-gewerkschafter.com/?s=detlef+hertz) hat uns als Gewerkschafter/Innen-Arbeitskreis (AK) eine Ausarbeitung zum Thema „Die historische Lüge der DDR-Pleite“ zukommen lassen und wirbt dabei für die Zeitung „DIE JUNGE WELT“. Diese haben wir in ihrer Gänze nachstehend zu Eurer gefälligen Kenntnisnahme auf unsere Homepage gepostet.

Für den AK Manni Engelhardt –Koordinator-

Kollege Detlef Hertz teilt mit:

„Hallo zusammen,

DDR-Ministerpräsident Hans Modrow übergab dem CDU-Lakaien de Maiziere im
April 1990 eine schuldenfreie positive Wirtschafts- und Außenhandelsbilanz
ohne Spardiktate (bestätigt auch von US-Ökonomen); danach hinweggefegt (und
ökonomisch ausgeschlachtet) von den privaten Eigentumsbegehrlichkeiten der
Einheitsbesoffenheit.

https://www.jungewelt.de/2015/04-10/001.php

Modrowsche RekonvaleszenzVon wegen katastrophale Lage! Die DDR-Regierung
entwickelte eine solide Wirtschaftspolitik und präsentierte im April 1990
schwarze ZahlenVon Jörg Roesler
[image: Neoliberale Politiker zugehört: Statt mit Spardiktaten bekam DDR]
Neoliberale Politiker zugehört: Statt mit Spardiktaten bekam
DDR-Ministerpräsident Hans Modrow mit Renten- und Lohnerhöhungen bzw. einer
klugen Wirtschaftspolitik die Ökonomie in den Griff (beim Jugendsender DT
64 in Berlin)
Foto: jW Archiv

Am 9. April 1990 hielt Ministerpräsident Hans Modrow vor führenden
Wirtschaftsvertretern der Bundesrepublik im Wirtschaftsclub Rhein/Main in
Frankfurt einen Vortrag über die ökonomische Entwicklung in der DDR
zwischen November 1989 und April 1990. Mehr als 400 Manager hatten sich
eingefunden, um dem nach den Wahlen vom 18. März 1990 lediglich noch für
wenige Tage amtierenden DDR-Ministerpräsidenten zuzuhören. Was er sagte,
dürfte nur jene Manager verwundert haben, die nicht im »Ostgeschäft« aktiv
waren und dort keine Jointventures (siehe *jW*-Thema vom 11.3.2015)
betrieben. Denn Modrow präsentierte eine positive Bilanz der ostdeutschen
Wirtschaftsentwicklung in den zurückliegenden Monaten, die
Nettoverschuldung der DDR eingeschlossen.

Die Bonner Politiker und alle jene Bundesbürger, die auf Berichte in den
Medien angewiesen waren, musste dagegen das, was sie am nächsten Tag auch
in knappen Worten in der Zeitung lesen konnten, verblüffen. Denn bereits am
24. Januar – bei einem »deutschlandpolitischen Gespräch« bei Helmut
Seiters, an dem außer dem »Chef des Bundeskanzlers und Bundesministers für
besondere Aufgaben« und der »Ministerin für innerdeutsche Beziehungen«,
Dorothee Wilms, weitere acht hochrangige Bundesbeamte teilgenommen hatten –
war man sich mehrheitlich darüber einig gewesen, dass die DDR-Wirtschaft
nicht mehr lange funktionieren werde. Heide Pfarr, ihres Zeichens Senatorin
für Bundesangelegenheiten und Bevollmächtigte Berlins beim Bund, wollte
sogar in Erfahrung gebracht haben, dass »nach den in (West-)Berlin
vorliegenden Informationen« in der DDR seit November »die Produktion auf
ein Drittel zurückgegangen sei«. Klaus Kinkel, Staatssekretär im
Bundesjustizministerium meinte am Ende des Gedankenaustauschs, man solle
sich »jetzt schon eine Eventualfall-Planung überlegen für den Fall eines
Zusammenbruchs in der DDR«.

Zwischen den Einschätzungen der Runde der Staatssekretäre von Ende Januar
und Modrows Beurteilung seiner Amtszeit von Anfang April liegen, was die
wirtschaftliche Entwicklung der DDR im ersten Quartal 1990 betrifft,
Welten. Als Historiker stets auf der Suche nach der Wahrheit befragte ich
die Daten der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR bzw., wie
es 1990 hieß, des Statistischen Amtes der DDR. Das mag verwundern. Denn,
dass diese Statistiken die ostdeutsche Wirtschaft zu rosig malen würden, ja
gefälscht seien, war in der bundesdeutschen Presse im Jahr 1990 Tag für Tag
zu lesen und ist heute Gemeingut des Bürgers sowohl in den alten als auch
den neuen Bundesländern.

Nur einer der auf jener Sitzung anwesenden Staatssekretäre, Franz Bertele,
ließ sich von den in rascher Folge in die Welt gesetzten Tatarenmeldungen
nicht beeindrucken. Der Leiter der »Ständigen Vertretung der Bundesrepublik
Deutschland bei der DDR« schätzte ein, dass die Wirtschaftslage in der DDR
»zur Zeit nicht schlechter geworden sei. Die Situation sei zweifellos
prekär, aber er sehe auch die Möglichkeit, dass sie sich stabilisieren
könnte«. Für ihn war unbestritten, dass man den im DDR-Publikationsorgan *Die
Wirtschaft*, das nach jahrelangem Verbot durch den Wirtschaftssekretär des
ZK der SED, Günter Mittag, in der »Wende« als »Unabhängige Wochenzeitung
für Wirtschaft, Handel und Finanzen« wieder auferstanden war,
veröffentlichten Daten des Statistikamtes vertrauen könne.
US-Ökonomen bestätigen Modrow

Ganz genau wusste man das allerdings erst im Frühjahr 1991, als der
Präsident des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, Egon Hölder, auf der
Messe in Hannover eine Erklärung verlas, der eine monatelange Überprüfung
des Datenmaterials des Statistischen Amtes in Ostberlin zugrunde lag. In
dem Statement von Hölder, dem der Ergebnisbericht »Untersuchung zur
Validität der statistischen Ergebnisse für das Gebiet der ehemaligen DDR«
zugrunde lag, hieß es: »Die von uns durchgeführte Studie untersuchte
konkret die Statistik im produzierenden Gewerbe, im Einzelhandel und in der
Landwirtschaft. (…) Welchen Einfluss hatte nach unserer Erkenntnis die
zentrale Planung auf die Ergebnisse? Das Ist-Ergebnis wurde streng
kontrolliert und war weitestgehend richtig. (…) Mit anderen Worten: Die
Statistik zeichnete im Wesentlichen die Realität nach.« Hölders
Erkenntnisse war der bundesdeutschen Presse nur eine kurze Notiz wert und
ist bis heute weitgehend unbekannt geblieben.

Zu den wenigen aus dem Westen, die sich nicht von dem hatten beeindrucken
lassen, was in der bundesdeutschen Presse über die DDR-Statistik und den
Zustand der ostdeutschen Wirtschaft stand, gehörte 1990 auch eine Gruppe
von vier US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern von der angesehenen
University of California in Berkeley – darunter der spätere
Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, George A. Akerlof, und
Janet L. Yellen, die heutige Präsidentin der US-Notenbank. Die Gruppe
reiste 1990 in beide Teile Deutschlands, sah die nicht mehr geheimen
ostdeutschen Wirtschaftsdaten ein, befragte dort tätige Ökonomen und
veröffentlichte die Ergebnisse ihrer Forschungen 1991 in den
angesehenen *Brookings
Papers on Economic Activity*. Nach den ermittelten Wirtschaftsdaten war die
Industrieproduktion der DDR, die in den Jahren 1986 bis 1989 noch Jahr für
Jahr moderat gestiegen war, erstmals im November 1989 um 1,4 Prozent
gesunken und im Dezember noch einmal um einen weiteren Punkt. Gemessen an
den Rückgängen der beiden Vormonate fiel der Januar 1990 mit einem weiteren
und kräftigeren Rückgang – um 3,2 Prozent – tatsächlich auf. Doch stieg die
Industrieproduktion im Februar (+ 2,2 Prozent) und März (+1,2 Prozent)
wieder an. So erreichte die Industrie in der DDR wieder den Dezemberwert
von 1989 bzw. das 1988 monatsdurchschnittlich Niveau.

Modrow hatte also, als er am 9. April im Wirtschaftsklub Rhein/Main sprach,
nicht geblufft. Die Industrie war das Rückgrat der sozialistischen
Wirtschaft, und dem weiteren Rückgang der Industrieproduktion war Einhalt
geboten worden. Die in seinem Kabinett für die Entwicklung der Ökonomie
verantwortlichen Regierungsmitglieder, allen voran die
Wirtschaftsministerin Christa Luft, hatten gute Arbeit geleistet und
moderate Erfolge erzielt – ungeachtet der Schwierigkeiten, denen sich die
ostdeutsche Wirtschaft im ersten Quartal 1990 gegenüber sah.

Fünf Hemmnisse

Der Hauptgrund für die Hemmung des industriellen Wachstums – also warum es
noch nicht gelungen war, das durchschnittliche Produktionsniveau von 1989
wieder zu erreichen – war die Abwanderung von Arbeitskräften in die
Bundesrepublik. Im Januar belief sich die Zahl der Wirtschaftsflüchtlinge
auf 74.000, im Februar waren es 64.000 und im März 47.000. Sie fehlten in
der Fertigung. Den registrierten 7.400 Arbeitslosen standen im Januar
158.600 offene Stellen gegenüber. Im März, als die Zahl der Arbeitslosen
über 38.000 (= 0,08 Prozent aller Arbeitskräfte) lag, belief sich die Zahl
der offenen Stellen in der DDR noch auf über 100.000.

Eine zweite Bremse des Wirtschaftswachstums war die von der Regierung
Modrow eingeleitete Rüstungskonversion, also die Ablösung der Produktion
von militärischen durch zivile Erzeugnisse. Mit einem Produktionsvolumen
von 1,5 Milliarden Mark war das Kombinat Spezialtechnik Dresden 1989 der
größte Produzent von militärischen Erzeugnissen und Dienstleistungen
gewesen. Die Breite des Produktionssortiments reichte, wie *Die Wirtschaft*
im April 1990 zu berichten wusste, von der Herstellung von Handfeuerwaffen,
Munition und Panzerabwehrraketen bis zu Erzeugnissen der Funkmesstechnik.
Die bereits begonnene Rüstungsreduzierung – bis Ende März waren Aufträge
für 210 Millionen Mark storniert worden – und die Rüstungskonversion
stellten die rund 11.000 Mitarbeiter des Kombinats vor erhebliche Probleme.

Als ein drittes Hemmnis für die Wiederherstellung des Niveaus von 1989
erwiesen sich die gewachsenen ökologischen Anforderungen an die Produktion.
Eine vierter vom Präsidenten des Statistischen Amtes der DDR, Arno Donda,
genannter Grund waren Materialengpässe – im Unterschied zu den drei anderen
altbekannt. Neu waren dagegen ein von Modrow in einer Unterredung mit dem
Leiter der »Ständigen Vertretung der BRD bei der DDR«, Bertele, Ende März
angeführtes fünftes Hemmnis. In einem Protokoll über das mehr als
einstündige Gespräch hielt Bertele u. a. folgende Äußerung Modrows über die
Auswirkungen der offenen Grenze zwischen DDR und BRD fest: »Sehr vieles
geschehe jetzt spontan. Händler aus der Bundesrepublik Deutschland gingen
mit ihren Waren über die Grenze, die sie zu unterschiedlichen Tauschraten
direkt an die DDR-Bevölkerung absetzten, zum Teil in der Relation eins zu
eins oder eins zu drei oder gar eins zu fünf. Wir hätten praktisch bereits
eine Wirtschaftsgemeinschaft in diesen Bereichen, ohne dass es konkrete,
den Austausch regelnde Absprachen zwischen den Regierungen gebe. Dies sei
ein Stück Anarchie. Die DDR habe das bisher ausgehalten und damit bewiesen,
dass sie wirtschaftlich stabiler sei, als manche vermutet hätten.«
Überschüsse im Außenhandel
[image: Gab die erste Geige freiwillig ab: Modrow-Nachfolger Lothar de M]
Gab die erste Geige freiwillig ab: Modrow-Nachfolger Lothar de Maizière
(Mitte) strebte nur noch die von Bundeskanzler Helmut Kohl geforderte
Wirtschafts- und Währungsunion an – ohne die Reformen des Vorgängers
abzuschließen (Kanzlerfest, 23.6.1990,
Foto: dpa picture-alliance

Nicht nur das Wachstum der Industrieproduktion, auch die Ergebnisse des
Außenhandels sprachen dafür, dass eine Rekonvaleszenz der DDR-Wirtschaft im
ersten Quartal 1990 eingeleitet worden war. Der Außenhandel der DDR
schloss, wie Donda Ende April 1990 in einem in *Die Wirtschaft*
veröffentlichen Interview mitteilte, mit einem Überschuss von 2,26
Milliarden Valutamark. Im Handel mit den Mitgliedsländern des Rats für
gegenseitige Wirtschaftshilfe konnte ein Exportüberschuss von 2,4
Milliarden Mark erzielt werden. Dem stand zwar ein Importüberschuss bei den
westlichen Industrie- und den Entwicklungsländern von 184 Millionen Mark
gegenüber. Von einer in der Presse behaupteten rasant ansteigenden weiteren
Verschuldung der DDR – Ende 1989 hatte die Nettoverschuldung der DDR laut
Deutscher Bundesbank 19,9 Milliarden Valutamark betragen – konnte aber
keine Rede sein. Das im Schürer-Papier im September 1989 für 1990
vorausgesagte Moratorium (Umschuldung) wegen unmittelbar bevorstehender
Zahlungsunfähigkeit der DDR konnte vermieden werden (siehe *jW*-Thema vom
27.9.2014). Noch Ende Mai 1990 kam Bundesfinanzminister Theodor Waigel
nicht umhin festzustellen, dass die DDR mit rund 13 Prozent des
Bruttosozialprodukts »eine vergleichsweise geringe Auslandsverschuldung«
aufweist.

Die Stabilisierung der DDR-Wirtschaft gelang ohne ein Spardiktat durch die
Regierung, ohne eine Reduzierung des Lohn- und Rentenniveaus. Im Gegenteil:
Die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung waren, so Donda in seinem Interview,
im ersten Quartal 1990 um 4,3 Milliarden Mark höher als im gleichen Quartal
1989, d. h. um zehn Prozent. Der Präsident des Statistischen Amtes führte
das Ergebnis auf eine Rentenerhöhung im Dezember 1989, auf Zuschläge zum
staatlichen Kindergeld zur Kompensation des Wegfalls von Subventionen für
Kinderkleidung usw. sowie auf Lohnerhöhungen in einigen
Wirtschaftsbereichen zurück. »Die Sparguthaben wuchsen seit Jahresbeginn um
drei Milliarden Mark, während die Bargeldbestände der Bevölkerung um 3,5
Milliarden Mark auf 13,5 Milliarden Mark zurückgingen.«

Modrow konnte in doppelter Hinsicht mit dem unter seiner Regierung
erreichten Wirtschaftsergebnis zufrieden sein. Erstens war es gelungen, den
seit der Maueröffnung im November 1989 eingetretenen Negativtrend in der
Industrieproduktion der DDR im Februar und März 1990 umzukehren. Und
zweitens entsprachen die erzielten Produktions- und Einkommensergebnisse
den am 1. Februar im »Regierungskonzept zur Wirtschaftsreform«
beschlossenen Maßnahmen. Die darin enthaltenen Zielstellungen,
Grundrichtungen, Etappen und unmittelbaren Maßnahmen waren vier Tage später
auch vom »Zentralen Runden Tisch« »als Grundlage weiterer notwendiger
Entscheidungen zur Durchführung der Wirtschaftsreform positiv eingeschätzt«
worden. Als Zielstellung galt, »die Wirtschaftsreform in kürzester Frist zu
stabilisieren« und dabei »das erreichte Lebensniveau zu halten, die soziale
Sicherheit für alle weiterhin zu gewährleisten«.
Gemauschel beim »Solidarbeitrag«

Der Ministerpräsident wusste allerdings, dass das im Regierungskonzept
vorgegebene Ziel aus eigener Kraft nicht zu erreichen war. Im Dezember 1989
hatte er bei seinem ersten Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden
auf die sehr unterschiedlichen Lasten, die beide deutsche Staaten nach 1945
auf Anforderungen der Besatzungsmächte vor allem im Bereich der
Reparationen zu tragen hatten, verwiesen. Modrow verlangte nun von der
Bundesregierung einen »Lastenausgleich« von zirka 15 Milliarden DM. Kohl
hatte durchblicken lassen, dass er der Zahlung eines, wie er es lieber
nennen wollte, »Solidarbeitrages« im Rahmen der projektierten
Vertragsgemeinschaft zwischen BRD und DDR positiv gegenüberstehe. Nach der
Aufgabe des Vertragsgemeinschaftsprojekts durch den Bundeskanzler zugunsten
einer raschen Vereinigung beider deutscher Staaten war seitens der
Bundesregierung von einem »Solidarbeitrag« nicht mehr die Rede. Auch als am
13. Februar der in Dresden vereinbarte Gegenbesuch von Vertretern der
Regierung Modrow in Bonn stattfand, und die mit nach Bonn gekommenen
Vertreter des Runden Tisches, die »Minister ohne Geschäftsbereich« Matthias
Platzeck und Rainer Eppelmann, gegenüber Kanzleramtsminister Seiters die
Frage eines von der Bundesregierung zu gewährenden Unterstützungsbeitrags
in Milliardenhöhe unmittelbar ansprachen, blieb es dabei.

Ungeachtet der Weigerung des Bundeskanzlers, vor den Wahlen in der DDR
weiter um den »Solidarbeitrag« zu verhandeln – ein Verhalten, das gegenüber
den in Dresden von ihm gemachten Zusicherungen fast einem Wortbruch
gleichkam –, war es der um »Minister ohne Geschäftsbereich« aus den Reihen
der Bürgerbewegungen erweiterten Regierung Modrow im Verlauf des ersten
Quartals 1990 gelungen, die im Reformkonzept vorgesehene
»Stabilisierungsphase der Volkswirtschaft« erfolgreich einzuleiten.
Einbruch mit de Maizière

Die dem Modrow-Kabinett nachfolgende Regierung von Lothar de Maizière
übernahm am 12. April 1990 eine funktionierende, wenn auch problembehaftete
Volkswirtschaft. Das Niveau der Industrieproduktion wies auch im April, de
Maizières ersten Amtsmonat, gegenüber dem Vormonat nur geringe Änderungen
auf, wenn sich auch der Aufwärtstrend vom Februar und März nicht
fortsetzte. Gegenüber März sank die Industrieproduktion im April leicht um
0,8 Prozent. Sie lag damit aber weiterhin nur unwesentlich unter dem von
der Regierung Modrow in der Konsolidierungsphase wieder erreichten Niveau
der Industrieproduktion von 1988. Allerdings konzentrierte die neue
Regierung ihre ganze Aufmerksamkeit auf wirtschaftlichem Gebiet vom ersten
Tage an auf die von Bonn geforderte Wirtschafts- und Währungsunion, die
Modrow erst für die Zeit nach Abschluss des Wirtschaftsreformprogramms Ende
1993 ins Auge gefasst hatte.

Die ab 1. Juli 1990 mit der Wirtschafts- und Währungsunion wirksam werdende
Schocktherapie in Verwirklichung neoliberaler Grundsätze des Wirtschaftens
führte dann, wie es Janet L. Yellen und ihre Kollegen von der Universität
Berkeley ausrechneten, innerhalb des Monats Juli zu einem Abfall der
Industrieproduktion um 34,9 Prozent. Im August schrumpfte sie sogar auf
47,9 Prozent des Niveaus von 1989 bei einem raschen Ansteigen der
Arbeitslosenzahl. Sie wuchs gegenüber dem letzten Monat der
Modrow-Regierung von 38.300 auf 361.300, also auf fast das Zehnfache. Dabei
sind die 1,5 Millionen Kurzarbeiter – im März 1990 hatte es noch keine
gegeben – nicht mitberücksichtigt.

Yellen und ihr Team sparten in ihrer Anfang 1991 veröffentlichten Analyse
der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Ostdeutschland deshalb auch
nicht mit Kritik. Sie kennzeichneten die Wirtschaftsentwicklung, die die
DDR im Sommer 1990 durchmachte, als »Economic collapse« und benutzten für
die Krise in den ab Oktober 1990 dann »neuen Bundesländern« sogar die
Bezeichnung »Great depression«, die von Ökonomen in den USA gewöhnlich nur
für die Weltwirtschaftskrise von 1929 verwendet wird. Das Team aus Berkeley
widmete einen beträchtlichen Teil seines Analysepapiers Maßnahmen zur
raschen Wiederbelebung der ostdeutschen Wirtschaft und wurde damit bei
Kanzler Kohl vorstellig, ohne jedoch Gehör zu finden.

In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur der Bundesrepublik – wie
etwa in Karl-Heinz Paqués Veröffentlichung »Die Bilanz« oder in dem Buch
»Kaltstart« von Gerlinde und Hans-Werner Sinn durchaus seriösen
Darstellungen der Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland im Jahre 1990
und darüber hinaus – wird die Modrowsche Konsolidierungsphase mit keinem
Wort erwähnt. Generell muss der Leser aus den wirtschaftswissenschaftlichen
Darstellungen, die der deutschen Vereinigung gewidmet sind, den Eindruck
gewinnen, dass es schon Jahre vorher, spätestens aber nach der Maueröffnung
im November 1989, mit der DDR-Wirtschaft nur noch abwärts gegangen ist. Was
zunächst noch fehlte, war eine diese Darstellung unterstützende Meinung
eines ostdeutschen Wirtschaftsexperten. Die fand man 1992, als das
»Schürer-Papier« vom September 1989 im Westen wiederentdeckt wurde, in dem
dieser die Wirtschaftssituation in der DDR als äußerst kritisch geschildert
hatte.

Gewürdigt wurden die Anstrengungen der Regierung Modrow von der Mehrzahl
der DDR-Bewohner seinerzeit nicht. Nur eine Minderheit zollte ihr
Anerkennung. Wirtschaftsministerin Luft schrieb darüber in ihren 1991
veröffentlichten Memoiren der Wendezeit und zitierte in diesem Zusammenhang
aus dem Brief einer parteilosen Frau aus Leipzig vom 3. März 1990: »Ich
möchte Ihnen in der noch verbleibenden Amtszeit ganz einfach meine
Hochachtung von Frau zu Frau aussprechen. Sie haben sich in einer
kritischen Zeit sehr engagiert und die Geschicke unseres Volkes mit in die
eigenen Hände genommen. Dazu gehört nicht nur Sachkompetenz, sondern auch
Mut zur Verantwortung und Entscheidung. Dass Sie es bisher mit Umsicht und
Weitsicht getan haben, belegt manches, und ich glaube auch, dass Sie uns
damit vor einem totalen Absturz bewahrt haben«.

*Professor Dr. Jörg Roesler begleitet auf den Themaseiten das Jahr 1990 in
BRD und DDR aus wirtschaftshistorischer Sicht. Einige seiner Publikationen
sind im jW-Shop erhältlich.*

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auf Basis einer Genossenschaft und eines eigenen Verlags sind einfach und
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Zum Onlineabo <https://www.jungewelt.de/abo/onlineabo.php>
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Eine Antwort zu Kollege Detlef Hertz zum Thema: „Die historische Lüge der DDR-Pleite!“

  1. Ferdi Jakobs sagt:

    Die Azd-Redaktion hat folgenden Info-Brief herausgegeben, den ich als Kommentar hierhin gepostet habe:
     
    Hiermit machen wir auf eine Veranstaltung in Hamburg am Donnerstag, 12.Januar 2023, aufmerksam. Das Redaktionsmitglied Heiner Karuscheit referiert dort über das Scheitern des Sozialismus in der DDR anhand seines Buchs „Sozialismus ohne Basis – Arbeiterschaft und Sozialismus in der DDR“:
     
    Jenseits des Proletariats – Sozialismus in der DDR

    In den ersten Jahren nach dem 2.Weltkrieg wurden die Grundlagen für die bis 1989/90 bestehende internationale Nachkriegsordnung gelegt. In der sowjetischen Führung heftig umstritten, spielte der von der SED im Juli 1952 beschlossene Aufbau des Sozialismus in der DDR bei der Zementierung dieser Ordnung eine zentrale Rolle.
    Da das Schicksal der DDR unauflösbar an die Sowjetunion gekoppelt war, wird zunächst die sowjetische Seite behandelt, bevor es um die DDR-interne Debatte und die Gründe für das Scheitern des DDR-Sozialismus geht.

    Vortrag und anschließende Debatte

    Der Referent hat mehrere Bücher zur neueren deutschen Geschichte und zur Entwicklung der Arbeiterbewegung veröffentlicht. Auf dieser Basis stellt er eine neuartige Interpretation von Entstehung und Ende des DDR-Sozialismus vor.
    Referent: Heiner Karuscheit (Gelsenkirchen)
    Termin: Donnerstag 12.Januar 2023, 18.30 Uhr
    Ort: Cafè Knallhart, Von-Melle-Park 9 (Uni)
    Die Veranstaltung findet unter den zu dem Zeitpunkt angemessenen Corona-Regularien statt.
    Bitte anmelden unter info@masch-hamburg.de

    Mit kollegialen Grüßen
    Ferdi Jakobs

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